
Die Bergbahnen stehen still. Der Coronavirus hat in der Schweiz zur Schliessung einiger Freizeitmöglichkeiten geführt. Und doch lockt der sonnige Mai so einige an die frische Luft. Auch mich scheint das Wanderfieber dieses Jahr besonders gepackt zu haben. Strecken, die mich im Vorjahr noch zum schnaufen brachten, scheinen mittlerweile viel leichter zu sein. Es ist ein tolles Gefühl, wenn sich der Fitnessanstieg endlich bemerkbar macht. Doch die Wanderung heute wird mich mal wieder an meine Grenzen bringen.
Der Ausflug startet in Erlenbach. Hier hinten im Tal starten nämlich die Wanderwege zum in der Region bekannten Stockhorn, welches durch seinen unverkennbaren Gipfel aus den Bergketten im Berner Oberland heraussticht. Als ich damals nach Thun gezogen bin, war er der erste Berg, dessen Namen ich mir merken konnte. Der Himmel schien sich immer besonders schön hinter diesen Bergen zu verfärben und der Anblick erfreut mich auch heute noch immer wieder aufs neue, wenn der Zug von Bern aus Richtung meine neue Heimat Thun fährt. Doch heute wird mir der Gipfel noch einige Fluchwörter und Seufzer entlocken.

Etwas verwirrt stockeln wir vom Bahnhof aus los und fragen erstmal in gekonnt (oder vielleicht leicht gekünstelt) aufgesetztem Berndeutsch nach dem Weg zum Oberstockensee. Dieser ist nämlich nicht ganz so offensichtlich ausgeschildert. Nach so vielen Wanderungen gibt es sie immer wieder. Die verwirrt-vor-dem-Wanderschild-stehen Momente, weil die nicht immer genau das beschildern, was man sucht oder logisch scheint. Dann gibt es auch noch die gebt-doch-mal-die-Wanderzeit-an Momente, die meist ein wenig Verzweiflung und Erschöpfung mit sich bringen, denn auch die ist nicht immer ausgeschildert. Von denen habe ich auf dieser Wanderung noch einige. Ungefähr 4 Stunden dauert der Aufstieg zum Oberstockensee. Vielleicht eher noch 30 Minuten obendrauf im Selina-Tempo (wie war das mit der Fitness?). Die Pause auf einer saftig grünen Wiese mit Ausblick ins Tal darf natürlich nicht fehlen.
Während wir unsere Vegischnitzel-Sandwiches verdrücken, ziehen Gleitschirmflieger über uns vorbei. Ein wenig Neid kann ich mir nicht verkneifen, wie sie so gemütlich ins Tal segeln. Oder mussten sie das ganze Material erst noch hochschleppen? Da motiviert mich mein immer leichter werdender Rucksack sogleich. Wobei wir das Essen ja eigentlich immer noch mitschleppen... - tiefgründige Wandergedanken, oder? ;P

Leicht frustrierend ist es immer, wenn man nach langem und anstrengendem Aufstieg plötzlich einen Abschnitt erreicht, auf dem Autos parkieren und man über eine geteerte Strasse auch auf leichterem Weg zum Ziel käme. Allerdings würde das das stolze Gefühl mindern, welches man immer hat, wenn man sein Ziel ausgepowert erreicht. Den Gesichtsausdruck, den man kriegt, eine Mimik aus Strahlen und Erschöpfung. Zumindest körperlicher, denn innerlich fühlt man sich nach solchen Ausflugstagen immer wie aufgeladen. Die frische Luft und wunderschöne Natur, am allerliebsten ein Gewässer, See oder Wasserfall als Ziel einer Wanderung, genau das ist es, was mich immer wieder in die Berge zieht und die "Warum tu ich mir das eigentlich an" Gedanken sofort verfliegen lässt. Eine Aussicht wie auf den Oberstockensee, der nun vor uns liegt.


Dahinter ragt der Gipfel des Stockhorns mit seinen insgesamt 2190 Metern in die Höhe. Der Weg führt vorbei am See, wo wir den Blick vom blauen Wasser nur abwenden, um nicht noch ausversehen reinzuplumpsen. Laich schimmert wie schwarze Perlen im Wasser entlang des Ufers. Als Kind konnte ich es nie lassen, die Hände hindurch gleiten zu lassen, um dann mit einem "grüselig" und gerümpfter Nase zu meinen Eltern zu rennen.
Mit Freude stellen wir fest, dass die Oberstockenalp geöffnet hat. Wir ergattern ein sonniges Plätzchen auf der Terrasse und ich belohne mich mit einer doppelten Zuckerdröhnung: Cola und Latte Macchiato! Ich staune immer wieder, wie kreativ der Schweizer Tourismus ist. Hier auf der Alp gibt es eine Übernachtungsmöglichkeit der besonderen Art. In einem Glasiglu kann man übernachten und vom Bett aus den Sternenhimmel bestaunen. Hier auf dem Berg muss dieser unglaublich sein. Die Übernachtung kostet zwar ein Vermögen und wir hören mit, dass sie ziemlich ausgebucht sind. Doch in Gedanken setze ich eine Sternwanderung auf meine Bucketlist - hoffentlich bald mit meiner ersten eigenen Kamera.
Der Gipfel des Stockhorns scheint so nah, doch sogar von hier aus wäre es noch eine weitere Stunde auf steilstem Weg hinauf. Ein reges Treiben herrscht auf der Terrasse im Alprestaurant. Die freundliche Familie unterhält sich mit allen Gästen und in der ganzen social-distance Zeit tut es gut, mal wieder etwas Leben mitzukriegen. So kriegen wir auch einen Telefonanruf mit, von einem Wanderer, der den Autoschlüssel beim Stockhorn oben liegen gelassen hat - herrje. Habe ich nicht noch über die Autos geflucht? Meine Beine würden keinen Meter mehr in die Höhe mitmachen. Der Sohn des Familienbetriebs joggt das Stück praktisch im T-Shirt hinauf und ist Retter in der Not.
Auf uns wartet etwas weiter unten gelegen der zweite See. Der Hinterstockensee ist derjenige, den man auch von der Gondel aus bestaunen kann, wenn man den Gipfel auf bequemerem Weg erreichen möchte (oder in normalen Zeiten könnte). Im Winter kann man hier sogar Schlittschuhlaufen. Seine Farbe, so habe ich gehört, ist dann tiefschwarz und es fühle sich an, als würde man übers Nichts schweben.
Die Kulisse scheint wie aus einem Märchen. Ein smaragdgrüner See, spitze Tannen rundherum und davor ein paar rosa Schweine, die mit ihren Steckdosen-Näschen grunzend auf uns zulaufen. Das zweite Highlight der Wanderung gibt uns den benötigten Restpush für den noch ca. 2 Stunden dauernden Abstieg zurück nach Erlenbach.



